Kommunikationsgrammatiken in der Mediation erkennen – und nutzen

07. April 2021, geschrieben von 

Die Metapher von „Vokabeln und Grammatik“ für die Arbeit von Mediator*innen in dem gleichnamigen Beitrag von Kirsten Schroeter finde ich prägnant und weiterführend. Sie beschreibt damit die unterschiedlichen Ebenen mediatorischen Zuhörens und Sprechens. Einerseits findet dies auf der Ebene der „Vokabeln“ statt, also den konkreten inhaltlich-fachlichen Begriffen in einem konkreten Konflikt und seinem konkreten Setting. Andererseits hören und sprechen wir Mediator*innen auf der Ebene der Grammatik, den darunterliegenden Mustern oder Strukturen von konfliktbezogenen Bedeutungen.

Meiner Meinung nach führt diese Metapher zum kommunikativen Kern der Konfliktbehandlung – nämlich zur Frage, mit welchen Kommunikationsstilen die vermittelnde „Drittpartei“ arbeiten sollte. Was verstehe ich unter Kommunikationsstil? Ein Kommunikationsstil ist eine bestimmte, benennbare Art des interpersonellen Austausches von Informationen, Handlungsplänen, Beziehungsbotschaften sowie des inneren Erlebens (entlang den vier Seiten des Kommunikationsquadrats nach Schulz von Thun), die über verschiedene Situationen ähnlich und zugleich (in Grenzen) variabel ist. Ein Kommunikationsstil kann sich über die Zeit grundlegend verändern. Vokabeln und Grammatiken bieten für die normativen Anforderungen an einen Kommunikationsstil die sprachlichen Formen der verständlichen Wortwahl und ihrer korrekten Verwendung. Ein Kommunikationsstil umfasst darüber hinaus die Salienz (Wichtigkeit) von thematischen Inhalten und die Selbstverständlichkeiten ihrer Kontexte.

Vokabeln mit ihren inhaltlichen Bedeutungen und Grammatiken als strukturelle Regelwerke des korrekten Ausdrucks bilden also in ihrer Gesamtheit einen Kommunikationsstil. Die Mitglieder einer sozialen Gruppe nutzen sie in ihren Gesprächen intuitiv und unterscheiden sich darin von anderen Gruppen. So wird in einer Mediation ein dialogischer, gleichberechtigter Austausch über Konflikte bevorzugt. Typische Vokabeln, die damit verbunden sind, lauten „dialogisch“, „gleichberechtigt“, „Konflikt“. Typische Grammatiken der Mediation sind ein „strukturierter Ablauf in der Verantwortung von externen Auftraggeber*innen“, „Prozessexpert*innen“, „Dreieckskommunikation zwischen zwei Konfliktparteien und der Vermittlungsperson“, „Aufbrechen von eingefahrenen Kommunikationsmustern“.

Beispielsweise schwingt in der Kommunikation von religiösen Gruppen ständig der Bezug zur transzendentalen Instanz mit. Rechtsanwält*innen denken bei der Beratung ihre Klient*innen selbstverständlich und kontinuierlich an die Risiken von Entscheidungen (z.B. über Vertragsabschlüsse, Investitionen). In hierarchischen Organisationen kommen individuelle Verantwortungs- und Statusphantasien mehr oder weniger subtil in der Kommunikation zum Ausdruck.  

Ich bin der Auffassung, dass man in der Vielfalt der Grammatiken und Vokabularien von Individuen, Bezugsgruppen, Organisationen, Nachbarschaften, Kulturen usw. unterscheiden muss, welche Vokabeln und Grammatiken man beherrschen sollte, um verstehen und hilfreich moderieren zu können. Ebenso sollte man unterscheiden können, welche dafür irrelevant sind. Das geschieht typischerweise in der schnellen Kommunikation bei der Besprechung von Konflikten eher intuitiv. Es beruht auf tief in der eigenen Sprachsozialisation verwurzelten Strategien des zwischenmenschlichen Verstehens. Auch die Mediationsausbildung ist in dieser Hinsicht eine Schule der Sprachsozialisation, vor allem in den wichtigsten Werten der Mediation („Big Five“) wie der bewertungsfreien Sprache, des strukturierten und transparenten Vorgehens, der inhaltlichen Selbstbestimmung der Konfliktparteien, der Prozessverantwortung der vermittelnden Person, ihrer inhaltlichen Abstinenz usw.

Zu diesen Strategien gehören zum Beispiel intuitive Entscheidungen darüber, ob und wann ich in einer Mediation nachfrage, wenn ich einen nebensächlich erscheinenden Begriff nicht verstehe: Wie oft darf eine mir unbekannte und unverständliche Vokabel auftreten, ohne dass ich nachfrage? Wann erwirbt diese Vokabel in meiner Aufmerksamkeit den Status "relevant", sodass ich dann doch nachfrage, um als Mediator nicht völlig abgehängt zu werden. In Mediationen fallen beispielsweise des Öfteren Namen von außenstehenden Personen. Ich kenne anfangs meist weder deren Position noch ihre Bedeutung für den Konflikt. Alle Konfliktbeteiligten scheinen aber genau zu verstehen, wer gemeint ist. So ein Name meint nicht selten eine Einflussgröße auf die Entstehung, Aufrechterhaltung oder Lösung des Konfliktes. Ich habe bemerkt, dass mein intuitives Verstehens-System offenbar darauf trainiert ist, bei der dritten Nennung nachzufragen, wer das ist, um dranzubleiben. Spontan orientiere ich mich daran, dass eine Vokabel, die mehrfach fällt, wichtig sein muss und mir daher verständlich werden muss.

Für Sach-, Handlungs-, Gefühls- oder Beziehungsvokabeln, die ich nicht verstehe, gelten bei meiner intuitiven Sprachregulation offenbar feine Unterschiede. Während unverstandene Gefühls- und Beziehungsvokabeln (z.B. "Organmechaniker" als Bezeichnung für bestimmte Ärzte oder eine Formulierung wie "Ich fühle mich unfair behandelt") unmittelbar direktes Nachfragen erzeugen („Was verstehen Sie unter „unfair“?), kann ich bei unverstandenen Sachvokabeln (z.B. der Name eines Medikamentes oder ein abstrakter Begriff für ein Entlohnungssystem) ziemlich lange meine Unkenntnis aushalten. Soviel zu den „Vokabeln“.

Wie ist es mit der Grammatik? Eine „gruppeneigene Grammatik" betrifft oft die unausgesprochenen Abstraktionsregeln in der Kommunikation. So arbeitet die akademische Organisationskultur im Bereich der Soziologie oft mit einem höheren Abstraktionsgrad als die im Bereich der Naturwissenschaften. Es erzeugt bei mir in der Arbeit mit Soziolog*innen gelegentlich ein Gefühl des "Schwimmens", wenn hochabstrakte Kategorien der Konfliktparteien in meinem intuitiven Verstehen keine konkreten Bilder mehr erzeugen. Zugleich entsteht ein Unwohlsein, weil ich befürchte, dass die praktisch-konkreten Handlungsbezüge verloren gehen könnten. Abstrakte Kategorien sind zugleich auch Machtquellen in der Konkurrenz um Deutungshoheit und Strategien zur Sicherung der kommunikativen Oberhand. Wenn ich dann – als emeritierter Professor mit langjähriger Gremienerfahrung – nicht die intuitive grammatikalische Feldkompetenz hätte, solche Machtstrategien anzusprechen, könnte ich als Konfliktmoderator kaum hilfreich in die Kommunikation einwirken.

Unter grammatikalischer Feldkompetenz verstehe ich die intuitive Kenntnis von regelhaften Mustern, die vier Arbeits- und Lebensbereiche betreffen, die über Sprache kommuniziert werden: Muster für die Kommunikation über (1) Informationen und Wissen (Know what), über (2) unser Handeln (Know how), über (3) die individuelle und normative Regulierung unserer Beziehungen (soziales Know why) sowie über (4) das eigene und fremde innere Erlebens (psychisches Know why).

Die von Kirsten Schroeter genannte Konfliktverstehens- und -behandlungsgrammatik besteht aus dieser Perspektive somit in Mustern sprachlich-intuitiver Regeln zu diesen vier Lebens- und Arbeitsbereichen. Man könnte von grammatischen Kulturen sprechen. Für die Mediationspraxis geht daher zum einen um das Verstehen der Grammatik des Kontextes, in dem Konflikte ablaufen wie Kirsten es ausgeführt hat; z.B. organisationaler, kirchlicher, universitärer, handwerklicher, militärischer oder Non-profit-Kontexte.
Darüber hinaus geht es auch um die Grammatik des Konfliktsystems selbst, d.h. des Gefüges von Wissensbeständen und Beziehungen mit ihren Wahrnehmungs-, Gefühls-, Entscheidungs- und Handlungspräferenzen in ihrem materiellen und sozialen Umfeld. Denn: Wie menschliche Gruppen immer neue Kulturen entwickeln, so haben auch verschiedene Konfliktsysteme in demselben Kontext  nicht eine einheitliche Grammatik, sondern weichen mehr oder weniger stark voneinander ab. Unterschiedliche Grammatiken führen zu Störungen des gegenseitigen Verstehens und diese können sachbezogene Konflikte verkomplizieren und verstärken.

Das bedeutet dreierlei: (1) Grundsätzlich bestehen Unterschiede in der Grammatik zwischen Konflikt- und Mediationssystemen: Die Grammatik (Muster) der dysfunktionalen Konfliktkommunikation der Konfliktparteien und die Grammatik der professionellen Konfliktvermittlung unterscheiden sich entscheidend. Denn das Konfliktsystem soll ja seine dysfunktionalen kommunikativen Muster (d.h. seine Grammatik, z.B. geringschätzende, intransparente oder strategische Kommunikationsstile) so umgestalten, dass es Konflikte zügig und nachhaltig klärt und löst. Und dafür bietet die professionelle Konfliktvermittlung eine andere Grammatik als Vorbild an und versucht, das Konfliktsystem dosiert zu anerkennenden, transparenten und ergebnisoffenen Kommunikationsstilen zu bewegen.

(2) Unterschiede in den Grammatiken der Konfliktparteien: Diese unterscheiden sich, selbst wenn in vielen Fällen zu beobachten ist, dass sich die Konfliktgrammatiken der Konfliktparteien im Verlauf einer Konfliktentwicklung angleichen. Dies ist oft Teil der Konfliktverschärfung, wenn es sich z.B. um aggressive oder kompetitive Kommunikationsmuster handelt. Gelegentlich haben sie auch unterschiedliche Grammatiken, die komplementär (im Sinne eines Teufelskreises) ineinandergreifen. Beide Varianten sollten in der Mediation erkannt und beachtet werden.

(3) Dynamiken zwischen Konflikt- und Mediationssystem: Wenn eine Partei eine ähnliche Grammatik hat wie die Konfliktvermittlung, kann es zwischen den Parteien und der Mediationsperson zu unterschwelligen Koalitionen und anderen Dynamiken kommen; z.B. zum rotierenden Dramadreieck im Wechsel der Täter-, Opfer- und Retter-Rollen.

Kurzum: Die Vokabel-Grammatik-Metapher scheint ein fruchtbares Instrument zu sein, sich genauer und schneller zu verständigen, weil sie den Beteiligten helfen kann, sich ihrer intuitiv-ablaufenden Denk- und Kommunikationsmuster bewusst zu werden, um sie dann ggf. im Sinne konstruktiver Konfliktbewältigung überhaupt modifizieren zu können.

Für die Weiterentwicklung der Mediationspraxis und -ausbildung kann es ebenfalls sehr fruchtbar sein, die verschiedenen Konfliktvermittlungsnarrative (Harvard, transformative, systemische, fazilitative Mediation, Klärungshilfe usw.) auf ihre typischen Vokabeln und Grammatiken zu untersuchen.

Letzte Änderung am 27. April 2021
Alexander Redlich

… ist Professor (i. R.) für Pädagogische Psychologie und hat Psychologe, Sozialpädagogik, Lehramt studiert. Er ist Mediator und Ausbilder BM®, wissenschaftlicher Leiter der Ausbildung "Konfliktberatung und Mediation" an der Universität Hamburg und seit Gründung im Vorstand von KOMET.
Seine Forschung und Lehre bezogen sich auf die Beratung von Lehrkräften und Schulklassen, ausgrenzungsgefährdete Kinder und ihre Familien, Dynamik von Arbeitsgruppen und Führung in Wirtschafts- und Verwaltungsorganisationen. Seit 10 Jahren geht es um Werte und Normen großer Gruppen. Dabei standen immer Kommunikation, Kooperation und Konfliktbewältigung in und zwischen den Mitgliedern menschlicher Gruppen im Mittelpunkt - nach dem Motto "Am Anfang war die Gruppe".

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