Nicht ganz überraschend war die Reaktion in dem Team, das vor mir saß, in Teilen ungläubig, in Teilen amüsiert – viele mussten überrascht lachen. Ich musste selbst schmunzeln. Da saß ich als (im Übrigen gut bezahlte) Prozessbegleiterin und sagte ganz offen, dass ich nichts verstehe?! Hatte ich mich versprochen? Ein dunkles Geheimnis versehentlich gelüftet? War ich nun blamiert und für den weiteren Verlauf als inkompetent entlarvt? Wie würde ich das je wieder wettmachen können?
Bei aller rhetorischen Zuspitzung – „nichts“ war vermutlich etwas scharf und ein wenig übertrieben formuliert – stehe ich zu diesem Satz und finde ihn für meine Art zu arbeiten richtig. Der Satz war meine Antwort auf die freundliche und durchaus fürsorgliche Nachfrage eines Teammitglieds, das anlässlich eines schwierigen Themas, das die Gruppe mit meiner Hilfe besser verstehen und regeln wollte, nachfragte, ob es mir zuliebe erst einmal erläuternde Hintergrundinformationen geben solle. Unausgesprochen war klar, dass diese Informationen allen im Team bereits bekannt waren. Ich habe es mir zur Gewohnheit werden lassen, darauf im Zweifel „Nein danke“ zu sagen.
Warum im Zweifel „Nein danke“? Wenn ich das im Folgenden zu begründen versuche, bin ich mir bewusst, dass meine Erklärung vorläufig und skizzenhaft ist. Das weiß ich auch deshalb, weil dieser Text bereits der zweite Anlauf ist, mein mediatorisches Zuhören genauer zu fassen; der erste Anlauf hat die „interne Qualitätskontrolle“ der Blogredaktion nicht bestanden… „Zu viele Ebenen auf einmal, zu unklar, zu uneindeutig“ – so oder so ähnlich lautete die kollegiale Rückmeldung.
Mit dem Ziel größtmöglicher Klarheit also die folgende Annäherung an das Wesen des mediatorischen Zuhörens, wie ich es – Stand heute – beschreiben würde:
Ich mediiere beinahe ausnahmslos in Arbeitskontexten. Diese Aufträge sind sehr divers, sowohl was die konkreten Arbeitsinhalte als auch die Organisationsformen betrifft. Da geht es an einem Tag beispielsweise um die Prozessketten auf den verschiedenen IT-Support-Levels eines international tätigen Dienstleisters. Da geht es am nächsten Tag um die Zusammenarbeit in einem Public Private Partnership und die Kollision von kommerziellen und entwicklungspolitischen Interessen im Rahmen eines landwirtschaftlichen Projekts. Dann wiederum stehen die technischen Schritte bei der Instandhaltung einer komplexen Maschine im Mittelpunkt. Oder ein ehrenamtlich organisiertes kulturpolitisches Vorhaben. Oder ein drittmittelfinanziertes, länderübergreifendes Forschungsprojekt. Oder die Zusammenarbeit in einer Genossenschaft oder in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie.
In der Regel verstehe ich über weite Strecken nicht, was auf der konkreten fachlich-inhaltlichen Ebene – Jurist*innen würden es wohl als die Ebene des „Sachverhalts“ beschreiben – verhandelt wird; in gewisser Weise schwirren mir viele unbekannte Vokabeln um die Ohren. Diese Unbekanntheit könnte dazu verlocken, die Vokabeln genauer verstehen zu wollen. Doch das, so meine Erfahrung und Überzeugung, hätte vor allem einen Mehrwert für mich und weniger für die Konfliktparteien oder gar für deren Klärung. Anstatt mich also auf die Ergründung und das Verständnis der konkreten Vokabeln zu konzentrieren, versuche ich in meiner Rolle als Mediatorin, vor allem der unter dem Text liegenden „Grammatik“ des Gesprochenen zuzuhören: Wie werden die Vokabeln verwendet? Welche Erzählmuster zeigen sich? Wo liegen die individuellen (auch emotionalen) „Druckpunkte“ in diesem Thema? Was wird verbal oder nonverbal betont? Wo wird geschwiegen? Wo wird gesprungen, wiederholt, wo stockt es? Wo nehme ich Inkonsistenzen in den einzelnen Schilderungen wahr?
Natürlich melden sich durchaus auch vokabel-getriebene Fragen bei mir – aus Neugier, aus dem Motiv heraus, besser verstehen zu wollen: Fragen nach Abläufen, nach Zusammenhängen, nach Namen, Orten, Funktionen. Und natürlich gibt es auch die Momente, in denen ich frage, weil ich sonst gar nicht mehr folgen kann – aber ich gebe mir große Mühe, nicht zu früh zu fragen. Nicht zu früh die Entfaltung der persönlichen Perspektive zu (ver-)stören, nicht zu früh zu steuern und fragend die Regie zu übernehmen. Nicht zu früh anzunehmen, dass ich mit mehr Details besser verstehen würde und deswegen besser arbeiten könnte. Das führt dazu, dass ich bisweilen im Zuhören kürzere oder auch längere Strecken „gedanklich schwimme“, weil ich (noch) nicht genau verstehe, worum es geht und wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt.
Mediatorisches Zuhören heißt für mich auch, dieses vokabelbezogene Nicht-Verstehen gut auszuhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass es auf meine fachliche Kenntnis der konkreten Arbeitsinhalte nicht entscheidend ankommt, um Klärungsprozesse hilfreich unterstützen zu können – wenn ich gleichzeitig in der Lage bin, „grammatikalisch“ zuzuhören. Das heißt nicht, dass mich das Fachliche nicht interessiert oder mir gar egal wäre. Ich verwende darauf nur nicht die hauptsächliche Energie meines Zuhörens und meines Abwägens von nächsten, stimmigen und nützlichen Interventionen.
Mein grammatikalisches Verstehen ist – so meine Vermutung – durchaus getragen durch im weitesten Sinne systemische Kenntnisse. Die Tatsache, dass ich beinahe ausnahmslos in Arbeitskontexten mediiere, führt über die Jahre natürlich dazu, dass ich eine Menge explizites und implizites Wissen über das Innenleben von Organisationen und Arbeitszusammenhängen erhalten habe. Ich zögere dennoch, hier von klassischer „Feldkompetenz“ zu sprechen, da ich es – angesichts der oben beschriebenen Diversität der Kontexte – nicht trivial finde, dieses Feld überhaupt zutreffend zu beschreiben; ich sehe mich beispielsweise nicht als „Wirtschaftsmediatorin“, obschon ich regelmäßig in Konflikten in der Wirtschaft mediiere.
Vor diesem Hintergrund schaue ich eher skeptisch auf die in der Mediationslandschaft immer mal wieder auftauchende Forderung, es sei wichtig, die besonderen Kenntnisse von Mediator*innen in spezifischen Bereichen besser zu vermarkten – etwa indem neue Titel wie „Wirtschaftsmediator*in“ oder „Umweltmediator*in“ geschaffen würden. Gleichwohl ist die Frage nach der nötigen Feldkompetenz von Mediator*innen ja durchaus ein Debatten-Dauerbrenner in der Mediationslandschaft – und vermutlich tun wir gut daran, die Art unserer Aufträge differenzierter zu unterscheiden, wenn wir uns zu dieser Frage positionieren. Denn ob ich als Mediatorin primär zu Fragen der Zusammenarbeit und Organisation im weitesten Sinne angefragt werde (wie es bei mir der Fall ist) oder primär zu beispielsweise vertraglich relevanten Fragestellungen wird mein Zuhören – und mein Verstehen-Wollen – maßgeblich prägen. Was wiederum verdeutlicht, welch verschiedenartige Mediationsrollen es gibt. Aber das ist ein anderes (Blog-)Thema…
Im vorliegenden Fall habe ich meine offensiv formuliertes „Nicht-Verstehen“ gegenüber dem Team kurz erläutert – damit war klar, dass es jedenfalls an dieser Stelle keine weiteren Hintergrundinformationen brauchte und ich stattdessen frohgemut (und in Unkenntnis der konkreten Vokabeln) weiter aufmerksam der Grammatik lauschen würde, um möglichen Klärungslinien auf die Spur zu kommen…
Und wie ist Ihr Zuhören und Verstehen-Wollen als Mediator*in ausgerichtet?