Erste Hilfe bei Überforderung der Konfliktbeteiligten: „Jetzt erst mal atmen…“

15. Juni 2022, geschrieben von 

Für die meisten Menschen ist ein Mediationstermin mit psychischem und emotionalem Stress verbunden – vorher, währenddessen und so manches Mal leider auch hinterher.

Wenn es um wertebasierte Konflikte geht oder wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die im Laufe ihres Lebens von grenzüberschreitendem Verhalten betroffen waren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie in einer Gruppenmediation temporär sehr herausgefordert bis überfordert sein werden. Wir können dies als Mediator*innen nicht komplett verhindern. Wir können uns jedoch vorab Gedanken darüber machen, wie wir Menschen bestmöglich in dieser für sie herausfordernden Situation unterstützen können.

Ich habe beispielsweise seit einigen Jahren meine „Tüddel-Box“ bei Mediationen dabei. Ich weise am Anfang einmal darauf hin, dass sie bei emotionalem Stress unterstützen kann, wo sie steht und dass alle Beteiligten sich gern bedienen dürfen. Sie wird immer wieder gern genutzt, so dass ich sie hier einmal vorstellen möchte.

In meiner Box befinden sich:

  • Einige unterschiedliche Knautschbälle. Diese Bälle erfreuen sich großer Beliebtheit. Ich habe hierfür meine alten Jonglierbälle verwendet, Kolleg*innen haben Knautschbälle gekauft. Ich würde an dieser Stelle nur dazu raten, nicht auf Knautschbälle mit Gesichtern und Emotionen zurück zu greifen, sondern neutrale Bälle zu wählen.
  • Verschiedene Tüddelbänder, also kurze Bänder in verschiedenen Farben und Stärken, die verknotet und entknotet werden können. Auch diese Bänder sind sehr beliebt. Neulich berichtete mir eine Teamleiterin, dass sie nach der Mediation Tüddelbänder für Dienstbesprechungen angeschafft hätte und dafür von ihrem Team gefeiert wurde...
  • Einige besondere Gegenstände, beispielsweise aktuell eine große stabile Muschel, eine Feder sowie ein geflochtener Stern.
  • Saure Drobs. Hier empfehlen sich vegane, weil Gelatine erfahrungsgemäß für Einige ein Thema ist.
  • Pfefferminz- und Zitronenöl. Es gibt eine Vielzahl von Düften. Ich habe zwei Klassiker ausgewählt, um den Geruchssinn bei Bedarf zu aktivieren.

Selbstverständlich sind hier der Kreativität wenig Grenzen gesetzt. Ziel ist es, sich mit einem Sinn deutlich zu beschäftigen, mit Fühlen, Riechen oder Schmecken – und so die Beteiligten ein Stück weit zu erden.

Ich achte darauf, dass die Gegenstände zum Anfassen in der Box robust sind, keinen Krach machen und nicht zu viel Aufmerksamkeit erfordern, denn diese soll ja nach wie vor möglichst auf den gemeinsamen Prozess gerichtet bleiben. Deshalb mussten beispielsweise eine klappernde Spielzeugschlange ebenso wie kleine Rätselspiele die Box über die Jahre wieder verlassen.

Eine weitere Unterstützung kann die bewusste Atmung sein. Wenn ich Menschen in Einzelberatungen auf herausfordernde Situationen vorbereite, übe ich mit ihnen häufig die folgende, schlichte Atemtechnik:

21, 22, 23 zählen beim Einatmen,

21, 22, 23 zählen und währenddessen Luft anhalten,

21, 22, 23, 24, 25 zählen beim Ausatmen,

21, 22, 23, 24, 25 zählen und währenddessen wieder Luft anhalten und notfalls nochmal von vorne.

Die Wirkung basiert auf einem schlichten Prinzip: Wenn wir unser Gehirn mit Zählen beschäftigen, benötigen wir unseren Cortex und kommen so aus dem emotionalen limbischen System wieder heraus.  Außerdem beruhigt es, wenn wir länger aus- als einatmen.

Im Laufe der Jahre habe ich so einige schriftliche Nachrichten erhalten, die mit „21, 22, 23…“ begannen und in denen mir Menschen von erfolgreich bewältigten Situationen mit Überforderungspotential berichtet haben – und zwar sowohl von Beteiligten als auch von Mediator*innen, denn auch uns selbst können manchmal „Ach-du-Schreck“-Situationen überfordern. Dann hilft: Erst mal atmen – um alles andere kümmern wir uns später.

Außerdem möchte ich an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, dass ein Online-Setting Stressreduktion für Beteiligte bedeuten kann. Hierzu habe ich bereits im Blog-Beitrag "Wie sieht meine Zukunft als Mediatorin per Videokonferenz aus? – oder: Wann ich sie wirklich zu schätzen gelernt habe" geschrieben.

Mich interessieren auch Ihre Erfahrungen: Wie gehen Sie als Mediator*innen mit Überforderungssituationen von Konfliktbeteiligten um? Was tun Sie, um die Konfliktparteien bei der Stressreduktion zu unterstützen? Ich freue mich über Ihre Anregungen in den Kommentaren!

Letzte Änderung am 05. Juli 2022
Silke Freitag

… beschäftigt sich als freiberufliche Mediatorin seit über zwanzig Jahren leidenschaftlich mit Konflikten in und zwischen Organisationen sowie im öffentlichen Bereich. Sie vermittelt Handwerk und Kunst der Mediation an der Universität Hamburg sowie der KURVE Wustrow. Sie liebt bei alldem die Balance aus Bewährtem und Neuem. Gemeinsam mit geschätzten Kolleg*innen erprobt sie in Mediation und Ausbildung Neues, verwirft manches und entwickelt anderes weiter. Mit Freude reflektiert sie diese Erfahrungen - sehr gern auch schreibend.

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