Ich habe aus interkultureller Perspektive gelernt, dass besonders in diesem Abschnitt der Mediation die kulturelle Dimension der „Direktheit“ beachtet werden muss. Ein sehr direkter, frühzeitiger Einstieg mit den negativen, störenden Aspekten des Konfliktes wird von manchen Konfliktparteien als abschreckend und überrollend, von anderen als Gelegenheit zum Eskalieren wahrgenommen und nur eine dritte Gruppe von Konfliktparteien kann damit gut umgehen, weil es ihrer Vorstellung von Klarheit und Wahrheit entspricht. Daher sollte man sich auch an den Parteien orientieren, um die Direktheit sensibel zu regulieren.
Wie macht man das? Voraussetzung ist, dass man fest davon überzeugt ist, dass der Mediationsablauf in Schleifen abläuft, bei denen die Konfliktlage schrittweise immer weiter präzisiert wird. Das heißt, dass es immer wieder Möglichkeiten gibt, etwas nachzuholen oder zu korrigieren, was man glaubt versäumt zu haben. Es kommt also auf das Timing der Klärung an.
Auf der Grundlage dieser Überzeugung kann man dann vorsichtig in kleinen Schritten vorgehen. Ganz praktisch fragt man ja zunächst, worüber die Konfliktparteien sprechen wollen, um den Konflikt ggf. in handhabbare Einzelaspekte zu zerlegen. Wenn man dann auf einen dieser Aspekte eingehen will, kann man nach den Anliegen und Zielsetzungen der Parteien fragen und erst danach nach den Hindernissen. Diese Abfolge (1. Was sind Deine Zielvorstellungen zu diesem Punkt? 2. Was hindert Dich, sie zu erreichen? 3. Wie willst Du mit den Hindernissen umgehen?) ist übrigens ein allgemeines psychologisches Prinzip der der Problembearbeitung, weil die Zielvorstellungen zunächst die Richtung geben und die Präzisierung der konkreten Hindernisbetrachtungen die Motivation zum differenzierten Handeln erzeugen. Gleichzeitig bietet eine im Prozessverlauf frühe Sicht auf die Zielvorstellungen den ersten Blick über den Problemberg der Störungen hinweg und ermöglicht es, für den Prozess einen positiven Fokus zu entwickeln, noch bevor die Mediation sich den Störungen widmet. Das heißt zugleich, sich sensibel und schrittweise den Störungen mit den Parteien gemeinsam anzunähern.
Eine andere Variante bietet die Transformative Mediation, die keinen vorgegeben Ablauf vorsieht. Transformative Mediatorinnen fragen die Konfliktparteien, wie sie vorgehen wollen und beobachten dann die Kommunikation, wie diese ihre Entscheidung finden, um ggf. Unterstützung zum Gelingen des Dialogs zu bieten. Ein transformativer Einstieg könnte also mit der Frage beginnen „Wie wollen sie anfangen? Wollen Sie zu diesem Punkt mit ihren Zielvorstellungen anfangen oder damit, was Sie (aneinander) stört? Oder haben Sie ein ganz andere Idee?“
Nicht nur die Konfliktparteien und die sachlichen Gründe für das Vorgehen spielen eine Rolle. Ein wichtiger Aspekt ist außerdem das Selbstbild von den eigenen Fähigkeiten, Vorlieben, Zielvorstellungen und Befürchtungen (s.a. mein Blog-Beitrag zur Empathie in der Mediation): Wie passt das Vorgehen zu mir? Wenn man als Mediator kein gutes Gefühl bei einer bestimmten Vorgehensweise hat, weil man z.B. befürchtet, dass einem der Prozess entgleitet, sollte man eine andere Vorgehensweise wählen, die einem weniger Sorgen macht. Wenn man z.B. weiß, dass man Störungen ungern direkt im Sinne des Aktiven Zuhörens verbalisiert (“Es stört Sie, dass xy nach Ihrer Wahrnehmung vor allem darauf aus ist, Ihnen Fehler nachzuweisen.“) und nur zögerlich ans Flipchart schreibt („erlebte Fehlersuche“), sollte man sich nicht dazu zwingen, sondern den Parteien die Wahl des Ausdrucks zu lassen, indem man sie fragt, was man aufschreiben soll, und zugleich die Möglichkeit anbieten, „es noch nicht in aller Klarheit zu benennen“.
So hängt aus meiner Sicht die Wahl des Vorgehens an drei Aspekten: (1) An den sachlichen Ablauf-Anforderungen (erst die Ziele, dann die Hindernisse/Störungen, zuletzt die Handlungspläne), (2) an den Wünschen und Vorstellungen der Parteien und (3) an den eigenen Vorstellungen und Befürchtungen.
Dies ist eine sehr komplexe Entscheidungssituation, die Widersprüche enthalten kann; beispielsweise wenn man merkt, dass beide Parteien eine unklare Ausdrucksweise haben und die Konfliktklärung nicht vorankommt. Dann müsste die vermittelnde Person eigentlich ein gutes Beispiel für Klarheit und Wahrheit sein. Wenn sie dies aber nicht sozialverträglich formulieren kann, kommt es leicht zu Formulierungen, die zwar klärend, aber zu drastisch sind und den Konflikt zu früh eskalieren lassen. Eine derartig komplexe Situation kann unser Gehirn nicht sachbegründet bewältigen. Wir müssen als Mediatorinnen der Intuition unserer Wahrnehmungsverarbeitung vertrauen.
Wollen sich die Beteiligten den Störungen widmen, achte ich vor allem auf mich in der Situation: Passt eine klare Störungsbeschreibung zu meinem momentanen, intuitiven Eindruck von der Situation? Welcher Grad an klärender Direktheit entspricht diesem Eindruck bzw. wohin drängt mich meine Intuition? In diese Handlungstendenz geht meine Einschätzung der Konfliktparteien ein. Dabei habe ich gelernt, dass ich robust wirkende, auf Klarheit drängende und direkt redende Konfliktparteien gern überschätze. Sie reagieren oft überraschend empfindlich auf Kritik, die die andere Seite bei der Störungsbeschreibung direkt und klar benennt. Äußere „Haudegen“ zeigen sich oft sehr empfindlich.
Zudem versuche ich meine Intuition etwas zu korrigieren, indem ich mich in meinen Formulierungen zur „goldenen Mitte“ bewege: Wenn von den Konfliktparteien Signale in Richtung „Wahrheit und Klarheit“ kommen, verbalisiere ich etwas vorsichtiger als mich meine Intuition drängt. Wenn ich viel Vorsicht erleben, lege ich eine Prise mehr „Direktheit“ hinzu als mir meine Intuition signalisiert.
Auf welche Aspekte achten Sie und was haben Sie dabei für Erfahrungen gemacht?