Der innere Prozess kann dabei wie folgt beschrieben werden: Wenn es mir als Mitglied einer Gruppe gelingt, ein anderes Mitglied „meiner“ Gruppe, das in meiner Wahrnehmung „abweichend“ spricht oder handelt, durch einen in der Gruppe negativ bewerteten „Ismus“ zu etikettieren, kann ich eigene unangenehme Ambiguitätsgefühle abwehren und kognitive Unsicherheit vermeiden. Allgemein gesagt: Die Zuschreibung einer bedeutsamen Fehlhaltung bei anderen verringert bei den etikettierenden Gruppenmitgliedern das unangenehme Gefühl von Zweifel (kognitiver Unsicherheit). Zugleich steigert es das Gefühl kognitiver Gewissheit über die soziale Richtigkeit der eigenen Weltsicht. Damit kann eine Distanzierung vom etikettierten Mitglied begründet und Gleichsetzungsbefürchtungen gemildert werden. In der Markierung der Fehlhaltung des anderen Gruppenmitglieds schreiben sich die etikettierenden Gruppenmitglieder implizit die entgegengesetzte Werthaltung zu.
Diese Etikettierung ist oft ein kommunikativ-generalisierender Sprung vom Einzelverhalten zu einer Eigenschaftszuschreibung und im Weiteren zu einer Persönlichkeitsdiagnose. Sie greift das gewünschte Selbstbild und damit die Identität des beurteilten Gruppenmitglieds an. Ismus-Etikettierungen verschärfen m.E. mit hoher Wahrscheinlichkeit einen möglichen Intra-Gruppen-Konflikt mit Hilfe von fünf Eskalationsfaktoren. Die Etikettierung wird…
- .…. als verallgemeinernd erlebt. Die Verallgemeinerung ist oft vierfach: Das Etikett ist zeit- und situationsübergreifend („immer und überall“). Es wird aus einzelnen, gut erkennbaren Merkmalen („Stigmata“) auf weite Teile der (nicht beobachtbaren) Persönlichkeit bzw. die gesamte Person geschlossen. Schließlich bezeichnet es personenübergreifend alle „anderen“, die der Ismus-Gruppe zugeordnet werden. Das etikettierte Mitglied erlebt sich mit dem gesichtslosen Gruppenetikett gleichgesetzt. Diese Verallgemeinerung bedroht sein Selbstbild.
- … als feststehende Persönlichkeitsdiagnose erlebt: Sie ist die Zuschreibung einer tiefliegenden und damit schwer veränderlichen Persönlichkeitseigenschaft. Im Extremfall wird damit die Gesamtpersönlichkeit bezeichnet („Charakter“). Damit wird vom Gruppenmitglied implizit eine umfassende Veränderung gefordert, die von dem Betroffenen viel Anstrengung erfordert.
- … als Bedrohung der Selbstbestimmung erlebt. Wer andere in ihren Wert- und Fehlhaltungen diagnostiziert, schreibt sich selbst zugleich den Status zu, Persönlichkeitseigenschaften anderer benennen und bewerten zu dürfen (und zu können). Der hohe Wert der Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft und das damit verbundene Selbstbestimmungsbedürfnis der beurteilten Person macht diese Persönlichkeitsetikettierung zu einem Angriff auf die Selbstbestimmung. Die Auseinandersetzung geht damit immer auch um den Erhalt der Selbstbestimmungskompetenz.
- … als Dominanz-Beziehung erlebt: Es gibt ein beurteilendes Subjekt mit einseitiger Deutungshoheit und ein beurteiltes Objekt. Damit droht dem etikettierten Gruppenmitglied ein benachteiligendes Machtgefälle, das ebenfalls abgewehrt werden muss.
- … als Ausgrenzungsbedrohung erlebt: Die Etikettierung eines Gruppenmitglieds durch ihre abweichendem Fehlhaltungen greift auf Normen und Wertvorstellungen der Gruppe zurück. Damit wird auf das etikettierte Mitglied Konformitätsdruck ausgeübt. Wem die Ausgrenzung aus der eigenen Gruppe droht, muss viel Energie für verschiedene Abwehrstrategien aufbringen, um sich zu rechtfertigen. Dies trägt zum Konflikteskalationspotenzial erheblich bei. Zugleich gewinnt die Möglichkeit der Ausgrenzung generell in der Gruppe an Bedeutung und schwächt das gegenseitige Vertrauen aller.
Fazit: Ein Ismus-Vorwurf vereinigt somit die Kraft der wichtigsten Eskalationsfaktoren in einem Wort und wird wahrscheinlich einen intensiven Konflikt zur Folge haben. Daher sollten Konfliktmoderator*innen solche Vorwürfe beim ersten Auftreten als Identitätsbedrohung und erheblichen Eskalationsschritt erkennen und ihre Intervention in der Folge darauf ausrichten, dass sie zurückgenommen und sozialverträglicher formuliert werden. Damit können sie die Konfliktparteien wieder auf die weniger eskalierten Konfliktstufen von Verhaltensvorwürfen zurückführen. Ich habe gute Erfahrungen mit folgendem Vorgehen gemacht:
- Den Vorwurf zum Thema machen: „Dieser …ismus-Vorwurf scheint mir sehr schwer und Sie (etikettierte Partei) lehnen ihn ab. Ich schlage dringend vor, dass Sie nicht wie bei einer Nebensache darüber hinweggehen, sondern ihn als Konfliktthema anerkennen und tiefergehend behandelt. Sind alle damit einverstanden?“ (ggf. das folgende Vorgehen kurz skizzieren, damit die Parteien wissen, worauf sie sich einlassen).
- Die etikettierte Partei nach der Wirkung des Vorwurfs befragen: „Wie reagieren Sie innerlich darauf?“ Meist wird dann deutlich, dass sie zu Gegenvorwürfen tendiert und die andere Seite ebenfalls negativ etikettiert.
- Mit der etikettierenden Partei, klären, was sie genau mit dem …ismus-Vorwurf meint. (Und zugleich die etikettierte Partei fragen, ob sie 10 Minuten zuhören kann, bis sie drankommt.) Dabei kommt es oft zu einer abgestuften Konkretisierung von der allgemeinsten Ebene der Gruppen-Etikettierung über Eigenschaftszuschreibungen zur „Interaktion-in-Situation“: „Worin drückt sich der …ismus denn konkret aus?“ Oft werden dann negative Eigenschaften genannt. – „Um noch konkreter zu werden: An welchem Verhalten erkennen Sie die xy-Eigenschaft?“ Auf die konkreteste Stufe zielt die Frage nach einer Beispielsituation: „Haben Sie dafür ein typisches Beispiel?“
- Wiederholung von (3) mit den Gegenvorwürfen der etikettierten Seite.
- Übergang zur Lösungsarbeit: Anhand der Beispiele wird oft die Interaktion zwischen den Parteien deutlich, auf deren Veränderung die Lösungsarbeit ausgerichtet werden kann: „Wollen Sie, dass es weiter so abläuft?“ – „An welchen Stellen der Interaktion sollten Sie etwas ändern?“ – „Was könnten Sie an Ihrem Verhalten ändern?“ Dabei kann auch zur Absprache kommen, dass die Parteien Ismus-Vorwürfe vermeiden, indem sie frühzeitig über problematische Interaktionen reden.