In einem Konflikt, den ich mit einer Kollegin begleitete, hatte die Führungskraft ein Projekt vorzeitig beendet, nachdem zuvor Fristen wiederholt nicht eingehalten und vereinbarte Produktspezifikationen nicht umgesetzt worden waren. Die Mitarbeiter warfen ihr daraufhin vor, sie wäre somit für das Scheitern des Projekts verantwortlich. Sie wolle alles bis ins Kleinste kontrollieren, kritisiere jeden Fehler und verliere dabei das Große und Ganze aus dem Auge. Die Führungskraft sah hingegen das Team in der Pflicht und beklagte, dass Absprachen und Regeln nicht eingehalten worden waren. Einzelnen warf sie vor, desinteressiert und unverantwortlich zu handeln.
Während der Mediation reagierte die Führungskraft auf jede Provokation, verurteilte das Team moralisch und drohte damit, Kompetenzen zu entziehen. Die Angesprochenen hingegen quittierten die Drohung mit einem Achselzucken. Die Führungskraft verletzte im weiteren Verlauf die mit dem Team vereinbarten Regeln für das Mediationsverfahren: Sie kam wiederholt zu spät, ohne dazu ein Wort zu verlieren, und verließ wortlos den Raum, um ein Telefonat zu führen. Dies setzte sich auch dann noch fort, nachdem wir dies thematisiert hatten und alle - auch die Führungskraft - bekräftigten, dass sie sich auf die im Rahmen der Mediation vereinbarten Umgangsregeln einlassen würden. Dies erschien uns umso bemerkenswerter, als sie dem Team ja auch Regelbrüche vorwarf.
Meine Co-Mediatorin und ich gewannen den Eindruck, dass die Führungskraft Mühe hatte, sich Autorität zu verschaffen, und hier ein Führungskräftecoaching angezeigt wäre. Allerdings befanden wir uns bereits mitten in der Mediation. Nach Abwägung der Umstände entschieden wir uns dazu, die Mediation fortzusetzen. Dabei standen wir vor der Herausforderung, die Führungskraft nicht weiter zu schwächen, indem wir quasi modellhaft durch unsere souveräne Führung des Prozesses zeigten, was das Team an der Führungskraft vermisste - und damit möglicherweise in Konkurrenz zur Führungskraft treten würden.
Uns brachte dies in eine Zwickmühle. Einerseits war uns klar, dass wir so nicht weiter arbeiten wollten. Zugleich wollten wir die Führungskraft in ihrer Rolle nicht in Frage stellen, z.B. indem wir ihr Verhalten vor dem Team kritisieren. Wir spielten gedanklich folgende Optionen durch:
- Laufen lassen und darauf hoffen, dass die Gruppe es zum Thema macht;
- den Regelbruch erneut benennen, aber durchgehen lassen;
- es als Mediatoren ansprechen und die vereinbarten Regeln zu Diskussion stellen;
- die Führungskraft im Einzelgespräch darauf ansprechen.
Wir entschieden uns für die vierte Variante. Bei uns war ein Bild von einer Kultur der gelebten Regelbrüche entstanden, welches uns selbst irritierte. Unsere Hypothese war, dass die Führungskraft maßgeblich dazu ihren Beitrag leistete. Darauf angesprochen, wurde die Führungskraft sehr nachdenklich. In der folgenden Sitzung thematisierte die Führungskraft aktiv ihre eigene Unverbindlichkeit und das damit einhergehende mangelnde Vertrauen ins Team. In der Folge entstand ein sehr offener und fruchtbarer Dialog, in dem es darum ging, was die Führungskraft dem Team zutraute.
Viele Wege führen zum Ziel. Dabei verläuft nicht jeder Prozess so gut wie dieser. Im Vorgehen war für uns handlungsleitend, dass wir die Führungskraft in ihrer Rolle stärken wollten. Da ein Coaching durch uns im Rahmen einer Mediation ausgeschlossen ist (siehe hierzu den Beitrag zur Allparteilichkeit aus Sicht des Gesetzgebers) hieß dies für uns, die Verantwortung bei ihr zu belassen. Zugleich wollten wir sie nicht vor dem Team kritisieren, da wir sie hier bereits unter Druck erlebten.