In der Folge wurde ich als Mediatorin in den letzten Monaten so manches Mal von Auftraggebenden in Konflikten hinzugezogen, bei denen es nicht in erster Linie um das Zwischenmenschliche ging, sondern vielmehr um den Umgang mit problematischen Rahmenbedingungen wie Lieferengpässen, Eltern, die ihre Kinder plötzlich zu Hause betreuen oder gar unterrichten mussten, Langzeiterkrankungen oder Mitarbeitenden in der Pflege, die sich nicht impfen lassen wollten.
Hierbei konnte ich einen zutiefst menschlichen Zug beobachten: die gute alte Pfadabhängigkeit. Pfadabhängigkeit bedeutet, dass wir Menschen uns häufig an erfolgreichem Handeln der Vergangenheit orientieren und somit zu kontinuierlichem Handeln neigen. Wenn beispielweise bestimmte Teile nicht erhältlich waren, erhöhten die für die Beschaffung zuständigen Personen den Aufwand sowohl zeitlich als auch energetisch ins schier Unermessliche, um irgendwie doch noch diese dringend benötigten Teile zu ergattern; Eltern fingen an, um die Kinderbetreuung herum nachts und am Wochenende bis zur Erschöpfung und darüber hinaus zu arbeiten, abertausende E-Mails wurden zwischen 23 und 5 Uhr geschrieben; mit Engelszungen redeten ganze Teams in wechselnden Konstellationen in für alle Beteiligten erschöpfenden Gesprächen auf einen Kollegen ein, der sich am Ende immer noch nicht impfen lassen wollte.
Zu Beginn fanden diese Auseinandersetzungen auch in meinen Mediationen statt: Stunden habe ich Gespräche von Menschen darüber moderiert, wie sie neue, originelle Wege finden können, Teile zu beschaffen, Kinder zu betreuen und trotzdem zu arbeiten – und ja, Impfdiskussionen wurden auch geführt. So manches Mal klebrig, zäh und erschöpfend wie diese Gesamtsituation.
Während der Moderation eines Teams kam mir das Bild von den Kamelen auf einer Alm in Südtirol in den Kopf und so sagte ich: „Nun, vielleicht sind diese nicht zu beschaffenden Teile auch einfach das Kamel auf der Alm, was es zu akzeptieren gilt. Gehört für mich nicht auf eine Alm, ist aber nun mal da und wird sich vermutlich auch so schnell nicht wegbewegen.“ Stille. Ich schätze diese produktive Stille, wenn im Raum spürbar wird, dass sich gerade neue Horizonte auftun.
Irgendwann sagte eine Teilnehmerin: „Okay. Vermutlich ist es tatsächlich so. Diese Teile werden schlicht nicht zu beschaffen sein und wenn wir Kopfstand machen. Aber was denn dann?“
Ich arbeite an dieser Stelle gern mit neuen Vorbildern, um Denkräume zu öffnen. Wenn der Weg des Kaufens gerade nicht funktioniert, dann können wir beispielsweise an Menschen aus Systemen denken, in denen regelmäßig irgendetwas nicht zu beschaffen war. Mir fiel dazu spontan eine befreundete Familie in den 80er Jahren in der DDR ein. Als ich in die Runde fragte, fiel einem Teilnehmenden ein Autoschrauber auf Kuba ein. Und so sagte ich: „Okay, stellt euch bitte die Frage, wie denn wohl dieser Autoschrauber dieses Problem lösen würde! Was würde er jetzt machen?“
Und so kam die Gruppe dazu, sehr kreativ Alternativen zu beschaffen; und für den absoluten Notfall beschloss die Geschäftsführung schlicht Betriebsferien in der Produktion.
Etwas anders dagegen läuft es in Mediationssituationen mit Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen. Ich führe hierzu ein Einzelgespräch und kläre, ob diese Haltung eine überzeugte ist, die sich im Rahmen einer Mediation nicht verändern wird. Wenn eine Gruppe diesen Umstand als Grundaxiom akzeptiert, dann stellt sich durchaus die Frage der Kooperation, Entflechtung oder Trennung (siehe den gleichnamigen Blog-Beitrag), aber das Zerren an der Person und somit der ermüdende Kampf um eine Impfung wird stattdessen zu einer Auseinandersetzung mit der Frage: „Wie wollt ihr damit umgehen, dass sich eine Kollegin nicht impfen lassen wird?“
Haben auch Sie Bilder, Geschichten oder Fragen, die dabei helfen, den Rahmen zu akzeptieren und gleichzeitig zu sprengen?