Ein Jahr später hat sich mit der gesammelten Erfahrung mein Blick verändert. Ich sehe die Vor- und Nachteile mittlerweile differenzierter und weiß in manchen Fällen Videokonferenzen durchaus sehr zu schätzen. Der Wegfall von Reisekosten (Finanzen, Zeit und CO2-Belastung) liegt hierbei auf der Hand und wird sicherlich zukünftig zu einem Abwägungskriterium für mich und vermutlich für viele Konfliktparteien selbst werden. Darüber hinaus gibt es jedoch auch Auswirkungen auf den Mediationsprozess an sich, die ich hilfreich finde. Drei Gedanken zu Szenarien, in denen ich wohl auch zukünftig virtuelle Formate gezielt nutzen werde:
Überdenkenswert finde ich Mediationen im virtuellen Raum in Konstellationen, in denen es absehbar nicht um eine Verbesserung der Kooperation in Form eines Miteinander, sondern vielmehr um klare Entflechtung im Sinne eines Nebeneinander oder Trennung in Form eines Auseinander geht. Hier haben die Konfliktparteien wiederholt zurückgemeldet, wie wohltuend es war, energetisch nicht im selben Raum zu sitzen, sondern sich trotz hoher Emotionalität im virtuellen Raum gut auf sich selbst konzentrieren zu können. Dies traf gleichermaßen auf den privaten wie beruflichen Bereich zu: egal, ob es um die gemeinsamen Kinder nach der Scheidung oder die gemeinsame Praxis im Trennungsprozess ging. Hier werde ich zukünftig die Konfliktparteien proaktiv fragen, ob sie sich lieber an einem Ort oder im virtuellen Raum treffen möchten, und kann mir auch vorstellen, erst einmal virtuell zu starten und erst im Laufe des Prozesses im physischen Raum zusammen zu kommen.
Ein zweites Phänomen finde ich in meiner Praxis bemerkenswert - und es deutet sich auch empirisch an, indem die statusniedrigere Partei online relativ gesehen zufriedener aus der Mediation heraus geht, während die höhergestellte Person im Vergleich in beiden Formaten eine höhere Zufriedenheit zeigte (Bollen & Euwema, 2013): Der virtuelle Raum vermag offenbar informelle Machtungleichgewichte besser auszugleichen. Dieser Machtausgleich im Rahmen von Mediation liegt mir sehr am Herzen (siehe dazu auch meinen Beitrag zum Umgang mit Privilegien und Diskriminierungserfahrungen). Bisher können wir nur mutmaßen, worin dieser Vorteil begründet liegt: Im virtuellen Raum vor dem Computerbildschirm entfällt spürbare emotionale Dominanz im Raum über Gesten wie beispielsweise raumgreifendes breitbeiniges Sitzen oder das Verschränken der Arme hinter dem Kopf. Gleichzeitig sitzen Konfliktparteien, die sich im Alltag unterlegen fühlen, in einer für sie unterstützenden Umgebung.
Des Weiteren stelle ich fest, dass durch das virtuelle Arbeiten kürzere Treffen selbstverständlicher werden: Wenn beispielsweise im Rahmen der Mediation eine Frage an den Betriebsrat auftaucht, so ist es virtuell ein Leichtes, die Konfliktparteien, ein Mitglied des Betriebsrats und die Mediatorin auch einmal nur für eine Viertelstunde zusammen zu schalten. Gleichermaßen schätzen einige Konfliktparteien nach dem Mediationsprozess kontinuierliche Begleitung über kurze Check-ins (bisweilen nur für 15 bis 30 Minuten) in der Nachbetreuung. Ich gehe somit davon aus, dass nicht nur meine Mediationsprozesse der Zukunft hybrider werden könnten und es neben Treffen an einem Ort eine Online-Nachbetreuung geben könnte.
Wie sieht es bei Ihnen aus? Gibt es auch bei Ihnen etwas, was Sie aus der Zeit der Pandemie zukünftig ohne Not beibehalten möchten?
Quelle:
Bollen, K., & Euwema, M. (2013). The role of hierarchy in face-to-face and e-supported mediations: The use of an online intake to balance the influence of hierarchy. Negotiation and Conflict Management Research, 6(4), 305-319.