Es gibt mehrere Gründe für diese Grundregel. Zum einen gibt es Situationen, in denen der Auftraggeber nicht über alle Facetten eines Konfliktes Bescheid weiß. Nicht weil er oder sie sich dafür nicht interessiert oder seine Mitarbeiter nicht kennt, sondern weil sie beispielsweise an deren Arbeitsalltag nicht teilnimmt und deswegen nicht alles, was sich da tut, mitbekommt. Zum anderen kann der Auftraggeber – auch wenn er noch so „dicht an seinem Team ist“ – genau so wenig wie jeder andere in die Köpfe anderer blicken. Daher kann man als Mediatorin auf böse Überraschungen treffen, wenn man sich mit allen Konfliktbeteiligten zum ersten Mal zusammensetzt. Oft gehen die Meinungen und Empfindungen zwischen dem, was der Auftraggeber, und dem, was das Team als Konfliktgegenstand oder als Lösungsziel sehen sehr weit auseinander – soweit gar, dass es ins Absurde geht.
Ein weiteres Argument für die Einzelgespräche ist aber auch, dass jeder Konfliktbeteiligte einmal die Möglichkeit bekommt, die Situation genau so zu schildern wie er oder sie diese sieht, und zwar ohne sich (beispielsweise einem Vorgesetzten gegenüber) erklären oder verteidigen zu müssen und ohne Angst vor den Reaktionen oder auch Sanktionen von Kollegen oder von Führungskräften zu haben. Dieses Argument bezieht sich nicht darauf, dem Mediator möglichst viele intime Einblicke zu gewähren, sondern bezieht sich vor allem darauf, dass sich Menschen im Konflikt unter großem Leidensdruck befinden. Ein Leidensdruck, der sich als schwerer Ballast im professionellen sowie oft auch im privaten Alltag negativ auswirkt. Manchmal sind diese Gespräche das erste Mal, dass die Beteiligten den Konflikt im Ganzen verbalisieren, und allein das kann zu einen Blick aus der Metaebene oder einer erleichterten Lösungssuche führen. Natürlich obliegt der Mediatorin damit die Aufgabe, sich abzugrenzen und mit genügend Abstand (und Verständnis) das Gehörte zu filtern. Eine Aufgabe, die ich persönlich gar nicht immer so leicht finde, dazu aber später mehr. Ich habe sehr viel Sympathie für dieses Argument, einfach aus dem Grund, dass es für Menschen eine unglaubliche Erleichterung sein kann, dass ihnen einmal vorurteilsfrei zugehört wird und sie verstanden werden. Damit können die Gespräche auch dazu beitragen, dass die Beteiligten weniger verkrampft und gestresst in den Mediationsprozess gehen.
Weiter könnte argumentiert werden, dass je mehr der Mediator gehört und verstanden hat, je mehr Hypothesen kann er darüber bilden, worum es hier (eigentlich) geht und wie er am besten die Mediation gestalten könnte. Und ja, natürlich sind die Einzelgespräche auch kontaktstiftend und können für Vertrauensaufbau sorgen. Nicht, damit sich der Mediator wohlfühlt, sondern damit alle mit einem guten Gefühl in die Mediation starten.
Wie gesagt, so habe ich es gelernt. In der Praxis sah es aber dann etwas anders aus.
Zu Anfang meiner Tätigkeit habe ich viele Mediationen pro bono gemacht. Die Aufträge waren spannend, die Auftraggeber hatten wenig oder kein Geld, aber da ich wenig zu tun hatte, habe ich sehr gerne die Gelegenheit genutzt, um zu lernen und um Erfahrungen zu sammeln. So ergaben sich, sozusagen etwas schleichend, mehrere Situationen, wo ich auf die Einzelgespräche verzichtet habe. Beispielsweise weil die Gruppe der beteiligten Konfliktparteien so groß war, dass Einzelgespräche – auch vor dem Hintergrund des fehlenden Budgets – sehr aufwändig gewesen wären. Woraus sich wiederum ergab, dass ich immer wieder bei Mediationen zwischen zwei Konfliktparteien auch auf die Einzelgespräche verzichtet habe.
Geprägt durch diese Anfangsphase ist meine Vorgehensweise zu einen „sowohl als auch“ geworden, wobei ich aber sagen muss, dass mein Ausgangspunkt die Einzelgespräche mit allen am Konflikt Beteiligten geblieben ist. Durch die positiven Erfahrungen, die ich gemacht habe, kann ich es aber methodisch nicht bei diesem Ausgangspunkt belassen.
Erstens bedürfen die Einzelgespräche einer sehr genauen Anmoderation, damit klar wird, wozu sie dienen und wozu nicht. Beispielsweise glauben manche Medianten fälschlicherweise, die Einzelgespräche seien dafür da, dass sie von mir erfahren dürfen, was die anderen zum Konflikt zu sagen hatten. Aber auch dass die Gespräche nicht dazu dienen, dass ich das mir Anvertraute nachher im Plenum als Sprachrohr wiederhole, muss ich oft mehrfach deutlich machen. Ebenso begegnet mir manchmal die Annahme, dass ich ja schon zumindest ein bisschen auf der anderen Seite stehen müsste, weil mir jemand zuvor schon seine Sichtweise erklärt hat. Dies sind einige Beispiele von Annahmen und Zuschreibungen, die trotz aller Erklärungsbemühungen Bestand haben können.
Der Schutz durch die Vertraulichkeit bleibt auch bei den Prozessschritten Einzelgespräche und Rückspiegelung ein Thema. Beispielsweise ist es nicht möglich zu beeinflussen, welche Bilder in den Köpfen der Auftraggeberin bei bestimmten Informationen entstehen. So habe ich öfters erlebt wie angenommen wird, dass benannte Themen von bestimmten Personen oder Personengruppen stammen. Eine Situation, in der ich als Mediatorin fast nur das "falsche" tun kann: Wenn ich nichts sage, könnte es als Bestätigung aufgenommen werden; wenn ich es verneine, liegt die Annahme ja nahe, es müsse von jemand anderen stammen. Also bedarf es auch hier einer sehr genauen und umsichtigen Anmoderation.
Zweitens habe ich gerade bei Konflikten, wo nur wenige beteiligt sind, sehr gute Erfahrungen ohne Einzelgespräche gemacht. Die Konfliktbeteiligten haben sich gleich zuhören können (und müssen), und durch diese Transparenz konnten sie (auf jeden Fall gefühlt) schneller zu neuen Einsichten darüber gelangen, wie die andere Partei denkt, handelt und sich fühlt. Für mich hat es sich gut angefühlt, dass wir alle zu jedem Zeitpunkt auf dem gleichen Kenntnisstand waren, und ich habe neugieriger und unvoreingenommener nachfragen können. Hier kann also meines Erachtens mehr Klarheit im Prozess erreicht werden, und vielleicht sogar mehr Vertrauen, weil kein Teilnehmer sich zu überlegen braucht, was der andere Teilnehmer mir erzählt haben könnte.
Einzelgespräche mit allen Konfliktbeteiligten sind also aus meiner Sicht einerseits eine sehr wertvolle Vorgehensweise und mein Ausgangspunkt, erfordern aber auch, wie ich finde, viel Um- und Vorsicht seitens des Mediators, und es gibt Situationen, wo der Prozess auch ohne profitieren kann.