Irvine beschreibt, wie der Blick der Mediatorin in Präsenz-Mediationen unwillkürlich hilfreiche Wirkungen entfaltet. Der Blick vermittelt intensive Aufmerksamkeit, er lädt ein zu vertrauen, er lädt ein zu erzählen. Am Rande des Blickfelds kann ich als Mediatorin zugleich Unruhe oder Spannungsmomente wahrnehmen und durch ein bloßes kurzes Anschauen signalisieren, dass ich das bemerkt habe und noch berücksichtigen werde – ohne ein einziges Wort dazu sagen zu müssen. Durch das bewusste aufmerksame Anschauen einer Person – insbesondere bei vielen Beteiligten – signalisiere ich zugleich, dass die anderen im Moment weniger Aufmerksamkeit bekommen (sollen); eine wichtige Unterstützung bei der möglichst geschmeidigen Steuerung eines Gruppenprozesses.
In Online-Mediationen hingegen sieht sich niemand wirklich an. Wir simulieren Blick-Kontakte. Wir schauen auf unsere Bildschirme in die Augen der anderen Beteiligten. Während wir das tun, schauen wir in der Regel nicht direkt in unsere Kamera. Übertragen wird also ein Blick ins Irgendwo, den sich die Person, die ich anschaue, im Idealfall als „gemeint bin ich“ übersetzt. Und ob die anderen Personen, die ich nicht anschaue, sich das zusammenreimen und unterstellen, dass ich jedenfalls jemand anderen anschaue… letztlich kann ich es nicht wissen.
All diese Facetten hätte ich wohl ohne die Beobachtungen und Reflektionen Irvines gar nicht so präzise beschreiben können. Zugleich ist mir dadurch deutlich geworden, dass ich offenkundig unbewusst durchaus bereits dabei bin, diesen anderen Gegebenheiten durch methodisch etwas andere Vorgehensweise gerecht zu werden – wie es ja als immer noch relativ frischgebackene Online-Mediatorin überhaupt gilt, die Besonderheiten dieses Formats zu entdecken, zu gestalten, die eigenen methodischen Möglichkeiten entsprechend weiter zu entwickeln und vor allem die mediatorische (Präsenz-)Intuition daran anzupassen…
Zum einen ist mir aufgefallen, dass ich zunehmend meinem Blick Worte verleihe – also schlicht ausspreche, wo ich hinschaue, wen ich anschaue, wo ich meinen Blick schweifen lasse, welche Eindrücke ich aus diesem Blick erhalte. Zum anderen habe ich in letzter Zeit häufiger explizit dazu eingeladen, dem Blick im Wortsinne mehr Raum zu geben – statt ihn dauerhaft auf den Bildschirm oder die Kamera zu richten. Etwa indem ich die Parteien explizit aufgefordert habe, ihren Blick schweifen zu lassen, auch jenseits der Kamera – zum Beispiel, wenn es mir darum ging, dass sie eine Gesprächsphase bewusst auf sich wirken lassen. Oder indem ich die Beteiligten gebeten habe, die Kamera einmal kurzzeitig auszuschalten (und sei es nur 30 Sekunden lang). Mit der Idee, bewusst den Blick nach innen zu richten und dann mit frischer Perspektive - und bestenfalls einer besseren Aufmerksamkeit jedenfalls für sich selbst - das Gespräch fortzusetzen.
Alles keine stillen und unwillkürlichen Vorgänge wie in der Präsenz, nichtsdestotrotz womöglich förderlich für unseren (gefühlten) Blick-Kontakt…
Ich bin sehr neugierig, welche anderen Erkenntnisse oder Erfahrungen es mit dem Online-Blickkontakt noch gibt!